29 Mai 2022

Eigentlich fast fertig – die verflixten letzten 10%

 


Einer der häufigsten Sätze, die ein Projektmanager zu hören bekommt, dürfte sein: „Ich bin eigentlich fast fertig“.  Mathematisch begabte Projektmitarbeiter hinterlegen gerne noch den konkreten numerischen Wert: „ich bin zu 90% fertig“. Zeit vergeht linear, der Projektfortschritt jedoch nicht. Während wir auf die letzten 10% warten, sterben schnell mal die Dinosaurier aus, ganze Zivilisationen streben empor und zerfallen. Was können wir tun, um endlich ganz fertig zu werden?

Ich entschuldige mich vorab - dies soll ein Beitrag zur Projektfortschrittsverfolgung werden - leider nimmt einen großen Teil des Textes allerdings wieder einmal die Anforderungs- und Zieldefinition ein. Eine Fortschrittsverfolgung, die ja im Kern eine Soll - Ist - Gegenüberstellung ist, kann jedoch nicht durchgeführt werden, wenn das Soll nicht vorab definiert wurde. Stellen Sie sich vor, Sie laden Ihr Smartphone: Ein stylisher Ladebalken wandert vom roten Bereich linear auf 100% - das ist Ihre Fortschrittskontrolle. Stellen Sie sich nun vor, dieser Balken würde nicht existieren: Sie wüssten nicht vorher, wann der Akku Ihres Smartphones leer sein wird und sie wüssten nicht, wann es voll geladen sein würde. Sie wären im völligen Blindflug unterwegs. Im Projektmanagement sind die "100% Akku" die Anforderungen bzw. Ziele und der Ladebalken der Projektfortschritt.

Um ganz fertig zu werden, müssen wir also zunächst natürlich wissen, was "ganz fertig" bedeutet. Dazu verlangt das agile Projektmanagement eine anpassbare Definition von Fertig („Definition of Done“), im klassischen Projetmanagement wird versucht, das Problem über vorab formulierte Abnahmechecklisten, Abnahmekriterien für die zu Projektbeginn definierten Ziele oder Akzeptanzkriterien zu lösen.

Das erste Problem liegt somit im Bereich des Anforderungsmanagements oder auch Demandmanagement. Der Anforderer ist dafür verantwortlich, dass seine Anforderungen ernst genommen werden und überhaupt erst realisiert werden können. 

Wer ist der Anforderer eines Projektes? Formell natürlich der Auftraggeber, also eine Person, die in der Führungsriege zu finden ist. Allerdings kann auch ein Sachbearbeiter eine Projektidee geben, um eine Verbesserung aus operativer Sicht anzustoßen. Nicht zuletzt munkelt man, dass Projekte mitunter dazu dienen, um die Wünsche der Kunden besser befriedigen zu können - somit tun wir gut daran, die Anforderungen möglichst vieler Stakeholder zu kennen und sie systematisch aufzunehmen. Die Anforderer sollten sich dazu vorab Gedanken zu folgenden Punkten machen:

  • Was ist das (Haupt)Ziel? 
  • Welche Nebenziele existieren? 
  • wie kann die Erreichung der Ziele gemessen und belegt werden?
  • Was ist der Nutzen hinter der Anforderung? 
  • Welche Ziele müssen zwingend erreicht werden, welche Ziele sind nur nützliches Beiwerk? (z.B. anhand der Muss- Kann- Soll oder MoSCoW- Priorisierungstechnik) 

Bei der Zielspezifizierung helfen wie bereits in meinem Beitrag zur Anforderungsdefinition beschrieben die üblichen Methoden wie  SMART, AROMA oder User- Stories, um nur einige Möglichkeiten zu nennen.

Was tut nun der Projektleiter, außer bei der Vorstellung der Anforderungen Kaffee zu trinken und so zu tun, als ob er zuhört? 

Der Projektleiter moderiert das entsprechende Meeting mit dem Ziel, ein einheitliches Verständnis der Stakeholder auf das kommende Projekt zu erwirken. Ziel dieses Abstimmungsprozesses ist, dass die Beteiligten sich von ihren individuellen Anforderungen auf ein gemeinsames Bild einigen - insbesondere hinsichtlich der angesprochenen Priorisierungen der Anforderungen. 

Wenn die Anforderungen klar sind, kann mit der Realisierung begonnen werden.

Ob wir nun zu Beginn einen klassischen Projektablaufplan erstellt haben oder uns die wichtigsten Anforderungen für den nächsten agilen Sprint rausgesucht haben, sei an dieser Stelle erst einmal unerheblich - wir wollen ja so langsam zum Kern dieses Blogs, nämlich der Fortschrittskontrolle kommen. An dieser Stelle wissen wir nun also, was "100% Akku voll" bedeutet.

Wie etablieren wir also eine wirkungsvolle Fortschrittskontrolle?

Das Zauberwort lautet wenig überraschend: Kommunikation. Fragen Sie Ihre Realisierungspartner in regelmäßigen Abständen nach dem Status. Geben Sie sich dabei nicht mit allgemeinen Aussagen wie „fast fertig“ oder „ca. 80%“ zufrieden – fragen Sie konkret nach: Welches Ziel wurde bereits erreicht, woran wird gerade gearbeitet? Was sind die nächsten Schritte? Jeder Fortschrittsbericht ist subjektiv: Schwarzseher werden ihre Fortschritte eher geringer einschätzen, optimistische Personen erledigen gefühlt schnell 90% der Arbeit und benötigen für die restlichen 10% länger. Ein persönliches Gespräch mit den Realisierungspartnern hilft, Missverständnisse zu vermeiden und eventuelle verschiedene Sichtweisen auf den Fortschritt kritisch zu hinterfragen. Die wichtigste Komponente im Projektfortschritt ist immer der Mensch: Sind die Projektmitarbeiter motiviert und kann der Projektleiter ihre Arbeitseinstellung und individuelle Sichtweise auf den Projektfortschritt richtig einschätzen, so ist ein genereller Projektfortschritt sichergestellt. Ob dies in dem festgelegten Maße geschieht, ist dann "nur" noch Feintuning. 

Ich verspreche Ihnen, dass die Wahrscheinlichkeit für Abweichungen zwischen Plan und Ist umso geringer ist, je besser die Anforderungen bzw. Ziele definiert sind und je intensiver Sie den Fortschritt kontrollieren.  "Intensiv" bedeutet dabei häufiger und genauer - kurz gesagt: Je mehr Zeit Sie als Projektleiter darauf aufwenden, Fragen zum Fortschritt zu stellen, desto eher können Sie bei Planabweichungen gegensteuern. Ja, richtig gelesen: Die Arbeit des Projektleiters ist nicht damit getan, Abweichungen festzustellen, das wäre ja noch recht einfach, letztendlich geht es darum, Gegenmaßnahmen umzusetzen um nach Möglichkeit wieder in den Plan zu kommen.

Trotz allem Verständnis und klassischer oder agiler Zieldefinition kann es leider zu Abweichungen kommen. Die Frage ist dann, wie wir darauf reagieren. 

Im klassischen Projektmanagement können wir "einfach" entlang des magischen Dreiecks entscheiden: Eine Fortschrittsverzögerung zu einem festgelegten Berichtzeitpunkts stellt eine Abweichung in der Leistungsdimension dar - diese kann durch die Dimensionen "Zeit" oder "Kosten" kompensiert werden, sprich: Wir benötigen halt länger oder wir setzen mehr interne oder externe Ressourcen ein, um die Leistungsabweichung zu kompensieren. Im agilen Projektmanagement haben wir evtl. ein Sprintziel durch die Leistungsabweichung nicht erreicht und kompensieren ebenfalls, indem wir das Ziel in einen folgenden Sprint aufnehmen oder das Backlog verlängern - auch hier kompensieren wir primär anhand der Dimension "Zeit" und indirekt in der Dimension "Kosten".

Genug der Theorie: Planabweichungen sind ärgerlich. Ob agil oder klassisch sollten wir diese im Team diskutieren und im Zuge einer Lessons Learned oder Sprint Review dafür sorgen, dass das gesamte Team daraus lernen kann, damit sich Abweichungen zumindest aus denselben Gründen nicht wiederholen. Sollten wir es dabei schaffen, das Team so zu motivieren, dass es diese Verzögerung zeitnah aus eigener Kraft aufholen möchte, so hat der Projektleiter ein episches Werk geleistet. Hier möchte ich den Aspekt der individuellen Entwicklung der Teammitglieder in den Fokus stellen: Wenn ein Kollege es nicht gewohnt ist, im Projekt zu arbeiten und seinen Arbeitsaufwand für ein bestimmtes Arbeitspaket oder einen Sprint zu schätzen, so wird er den Arbeitsaufwand tendenziell unterschätzen. Daraus resultiert höchstwahrscheinlich eine Verzögerung. Durch mehr Erfahrung in der Projektarbeit und einen Projektleiter, der den Lerneffekt fördert statt Verzögerungen bestraft, sollten sich die Schätzungen im Laufe der Zeit verbessern und Abweichungen so mit zunehmender Erfahrung des Projektteams (oder Scrumteams) verringern. 

Der große Vorteil der agilen Vorgehensweise liegt hinsichtlich der Fortschrittsverfolgung übrigens darin, dass Fortschritte in kleinen Zyklen von typischerweise 2 Wochen kontrolliert werden. Der klassische Projektleiter kann sich diese Philosophie nutzbar machen, indem er ebenfalls in kleineren Zyklen Fortschrittsbesprechungen ansetzt und insbesondere bei länger andauernden Projektphasen nicht erst zum Ende einer Phase hin Fortschrittscontrolling betreibt. So ist auch der Ladebalken in unserem Smartphone in aussagekräftige, gleichmäßige Teilschritte unterteilt - eine Einteilung, bei der der Ladebalken so lange auf 0% bleibt, bis er schließlich auf 100% springt macht keinen Sinn, genauso wie eine Fortschrittsanzeige in sagen wir mal zunächst 10%, dann bei 50% und schließlich bei 80% und 100% - wir könnten die Fortschrittsdauer mit diesen Fortschrittsmesszeitpunkten einfach nicht sinnvoll planen.

Wie und in welchen Zyklen verfolgen Sie den Status in Ihren Projekten? Wie gehen Sie mit Ihrem Projektteam bei Planabweichungen um? Wie entscheiden Sie, welche Gegenmaßnahmen Sie einleiten? Wie oft kontrollieren Sie den Ladebalken Ihres Smartphones? Lassen Sie es mich in Ihrem Kommentar wissen.

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