04 November 2021

Warum ist die Stakeholderanalyse unsinnig?

 


Ein klassischer Projektmanager führt vor Projektbeginn eine Stakeholderanalyse durch - so steht es geschrieben und so machen wir es. Halt- warum machen wir das genau? Die gängigen Definitionen der Stakeholderanalyse geben darauf Antwort - natürlich um die beteiligten Interessensgruppen zu identifizieren...

Aaah... Die Identifikation der Stakeholder kann also nur und ausschließlich erfolgen, indem wir eine Matrix zeichnen und als Zeilen- und Spaltenbeschriftungen dann optional "Interesse", "Einstellung zum Projekt",  "Einfluss" oder noch schlimmer "Macht" eintragen? Hat jemand mal versucht, hier "Wichtigkeit" und "Größe des Autos" abzutragen? Das wären zugegebenermaßen sehr unkonventionelle Beurteilungsdimensionen, allerdings sind die zur reinen Identifikation von Personen nicht weniger geeignet, ja sogar wesentlich bildhafter, oder? Hilfreiche Faustregel dazu: Wichtige Leute fahren dicke Autos und sind somit im Bereich "Hoch/Hoch" anzusiedeln, weniger wichtige Leute können ohne Sorge im Feld "Niedrig/Niedrig" einquartiert werden. 

Kommen wir zum Ernst der Lage zurück - die reine Identifikation von Stakeholdern ist ein kreativer Prozess, welcher auch im Rahmen der klassischen Stakeholderanalyse als Brainstorming abgehalten wird - optimalerweise natürlich im Kreis des Projektteams, denn damit so ein Brainstorming wirklich effizient ist, macht der Projektleiter das am besten nicht völlig alleine. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass für das Brainstorming überhaupt keinerlei Beurteilungsdimensionen benötigt würden - das Projektteam hat an dieser Stelle erfahrungsgemäß die wichtigsten unternehmensinternen Stakeholder deutlich vor Augen, und der Endkunde wird sowieso prinzipiell fast nie als Stakeholder genannt (achte Sie mal drauf). Feertiig - Stakeholder identifiziert, diesmal ganz ohne Beurteilungsdimensionen oder halt anhand ihrer Automobile. Nun können wir stolz zum Projektauftraggeber rennen und uns unser Fleißkärtchen abholen - Stakeholderanalyse gewünscht, Stakeholderanalyse geliefert.

Ach nein, da war doch noch was... Weiterführende Definitionen der Stakeholderanalyse in der einschlägigen Fachliteratur suggerieren, dass die Stakeholder nicht nur identifiziert, sondern auch noch benachrichtigt oder sogar einbezogen werden müssen - es muss also Kommunikation erfolgen...

Aktionen fallen manchmal schwer, Kommunikation mindestens ebenso - daher macht die klassische Stakeholderanalyse es uns an dieser Stelle leicht und stellt uns Normstrategien zur Kommunikation zur Verfügung. Diese sind mehr oder weniger aussagekräftig betitelt mit: repressiv, diskursiv, partizipativ und restriktiv... Das liest sich jetzt sehr toll in der Fachliteratur, manch einer mag sogar klug genug sein, diese Wörter auswendig zu lernen - aber intuitiv verständlich sind sie nicht, oder? Die Normstrategien haben natürlich den Vorteil, dass ich mich auf etwas berufen kann, wenn die Kommunikation schief läuft - in diesem Fall dient die Stakeholderanalyse dann jedoch nur als geduldiger Sündenbock, nicht als wertvolles Managementinstrument. Sind die vier knapp umschriebenen Normstrategien überhaupt noch zeitgemäß, oder kann der geneigte Projektleiter es sogar wagen, die entsprechenden Stakeholder zu fragen, wie und in welcher Frequenz sie am liebsten individuell einbezogen oder informiert werden wollen?

Überhaupt ist das Vorgehen bis hier nicht wirklich rund, wenn wir einmal drüber nachdenken: Wir sammeln in einem Brainstorming alle Stakeholder, sortieren sie anhand irgendwelcher Kriterien in Felder ein und kommunizieren dann mit diesen Menschen gruppenweise gleich anhand von wohlklingenden Normstrategien, weil wir unterstellen, dass uns im kreativen Prozess natürlich keine Fehler unterlaufen und dass dieses Brainstorming zu 100% exakt ist? 

An dieser Stelle muss ich noch einen Exkurs zu der Beurteilungsdimension "Macht" sowie zur Erweiterung der Stakeholderanalyse auf mehr als vier Felder einführen:

Warum ist die Beurteilungsdimension "Macht" völlig kontraproduktiv? Die Stakeholderanalyse sollte vorzeigbar sein - ich halte es für eine tolle Idee, diese beim Kickoff im größeren Kreis und natürlich auch unter Anwesenheit des Lenkungskreises und des Projektauftraggebers zu zeigen. Der Lenkungskreis besteht der Erfahrung nach aus hochrangigen Unternehmensvertretern - und nun stellen Sie sich vor, der Lenkungskreis besteht aus 2 Personen: Vorstand Herr Dr. Dr. X, über 60 Jahre alt, fährt ein sehr dickes Auto zur Demonstration seiner Macht, hat die letzten 40 Jahre intensiv und hauptsächlich damit verbracht, Macht aufzubauen. Dann noch Frau Y, ebenfalls Vorstandsmitglied, Mitte 40, fachlich sehr stark und die treibende Kraft hinter ihrem Projekt. Weil Frau Y Ihnen als fachkundiger Ansprechpartner während der Initiierungs- und Planungsphase zur Verfügung stand, steht Frau Y bei Ihnen zwar genau wie Herr Dr. Dr. X im Hoch/Hoch- Feld der Stakeholderanalyse - aber halt 2 cm weiter oben als Herr Dr. Dr. X - mit anderen Worten: Sie haben Frau Y als 2 cm mächtiger eingeschätzt als Herrn Dr. Dr. X! Ich verspreche Ihnen, dass sie den Zeitplan für den restlichen Kickoff getrost vergessen können, weiterhin werden sie sehr bald degradiert oder müssen das Unternehmen verlassen - Herr Dr. Dr. X wird eine ausufernde Diskussion darüber führen, dass die Stakeholderanalyse falsch ist, höchstwahrscheinlich ohne offen zuzugeben, dass er gerne in der Machteinschätzung über Frau Y stehen würde.

Aus diesem Grund tuen Sie sich selbst den Gefallen und verwenden sie "Macht" generell nicht als Beurteilungsdimension - in diesem Beispiel wäre sogar wiederum alles gut gewesen, wenn sie die Größe des Autos als Kriterium verwendet hätten - Herr Dr. Dr. X fährt ja wie beschrieben ein dickes Auto, Frau Y macht sich daraus nichts und wählt öffentliche Verkehrsmittel, dafür weist sie auch direkt, kurz und freundlich darauf hin, wenn sie sich in der Stakeholderanalyse falsch eingruppiert sieht - und schon geht der Kickoff wie geplant weiter.

Der allgemeine Trend geht dahin, die 4- Felder- Matrix der Stakeholderanalyse zu erweitern, nach dem Motto: Mehr ist besser! Wenn wir uns schwer tun, eine Beurteilungsdimension nur mit "Hoch" oder "Niedrig" zu bewerten, dann führen wir doch einfach noch ein "Mittel" ein, oder wir verschlimmbessern die Skala weiter mit numerischen Ausprägungen - dann können wir direkt "1 bis 5" oder auch "1 bis 9" bewerten. Der Bewertungsprozess ist natürlich weiterhin ein Brainstorming, welches intuitiv abläuft und daher lediglich subjektive Einschätzungen liefert - diese werden nicht umso genauer, je weiter wir differenzieren bzw. je mehr Unterteilungen wir der zugrundeliegenden Skala hinzufügen. Mein wichtigster Kritikpunkt an diesem Vorgehen ist jedoch: Bei diesen Erweiterungen werden im Ergebnis nicht entsprechend mehr Normstrategien hinzugefügt - wenn das Ergebnis dieses vermeintlich  genaueren Vorgehens jedoch wiederum nur 4 Normstrategien sind, wofür sollen wir dann die Skala erweitern? 

Ich möchte Ihnen zum Abschluss gerne mein Vorgehen zu einer sinnvollen Stakeholderanalyse darstellen, welche einen praxisrelevanten Nutzen ohne viel Schnickschnack bietet:

  1. Brainstorming im Kreis des bis zu diesem Zeitpunkt bekannten Projektteams
    • Beim Projektstartworkshop. Die Beurteilungsdimensionen "Einfluss & Interesse" können zur Hilfestellung verwendet werden, sind aber nicht dringend notwendig. Der Projektleiter sollte darauf achten, dass der Endkunde und alle externen Dienstleister als Stakeholder genannt werden - die werden meistens vergessen.
    • Beim Brainstorming sollte Zeitdruck hergestellt werden - nach der Vorstellung der Aufgabenstellung kann der Projektleiter dem Team 10 bis 15 Minuten Zeit geben, um alle wichtigen Stakeholder zu erfassen. Die Erfahrung zeigt, dass die Ergebnisse bei längeren Zeiträumen nicht besser werden. Falls der Zeitdruck für das Team zu groß wird und eine Blockade einsetzt, so kann der Zeitrahmen bei Bedarf verlängert werden.
  2. Benachrichtigung bzw. Befragung der neu bekannt gewordenen Stakeholder
    • Im schnellsten Fall mit einer kurzen Mail: "Sie wurden als wichtiger Interessensträger im Projekt XY identifiziert- möchten Sie aktiv am Projekt teilnehmen, einen Vertreter ins Projekt entsenden oder regelmäßig informiert werden? Gerne können wir auch ein individuelles Vorgehen vereinbaren". Geht auch als Massenmail, ist effizient und individuell - bye, bye Normstrategie.
  3. Regelmäßige Überprüfung und Kommunikation zu neu identifizierten Stakeholdern
    • Macht kein Mensch in dieser systematischen Form, gehört aber eigentlich dazu.
Welche Erfahrungen haben Sie mit der Stakeholderanalyse gesammelt? Halten Sie die klassische Stakeholderanalyse für nützlich? Wie viele Felder hat Ihre Stakeholderanalyse und welche Beurteilungsdimensionen verwenden Sie? Fahren Sie ein dickes Auto? 

Schreiben Sie Ihre Gedanken dazu gerne als Kommentar.

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